Auszeit 5.4. Regine Radermacher

Die Tücken der Literatur
oder
Zitatensalat
Regine Radermacher

            Tagelang hatte es vom Himmel hoch geregnet, doch endlich leuchtet die Sonne in die stille Kammerunter dem Dach. Hieronymus Schmidt legt sein Buch beiseite und erhebt sich aus dem Ohrensessel, den er seit drei Tagen kaum verlassen hat. Um ihn herum stapeln sich die dicken Folianten, mit denen er seine Zeit verbrachte. Schon als er noch der Waldbauernbub war, sagte seine Großmutter von ihm: „In seinem Kopf muss es aussehen wie Kraut und Rüben von all dem Gelesenen.“ 
            Er streckt sich und sagt laut: „Der Mann muss hinaus ins feindliche Leben...“,wirft sich den Umhang um, setzt den Hut auf und geht die Treppe hinunter. Als er vor der Tür in die Sonne tritt, murmelt er: „Und kam die goldene Herbsteszeit“, denn die begrüßt ihn tatsächlich auf der Schwelle.  Er wendet sich zum Weg ins Städtchen, dabei vor sich hinsummend: „Rote Blätter fallen...“ und schlurft ein wenig durch das Laub auf dem Gehsteig, wie er es als Junge tat.
            Als er den kleinen Park durchquert, ermüdet er bereits, denn er ist nicht mehr gut zu Fuß. Eine junge Frau kommt ihm hoch zu Ross entgegen und er denkt für einen Moment: 'ein Königreich für ein Pferd'Aber das ist natürlich Unsinn, denn reiten kann er nicht. So setzt er sich auf eine Bank unter einer Linde und döst ein wenig vor sich hin. 'Ich träumt in seinem Schatten gar manchen süßen Traum'. 
            „Platsch“, er schreckt hoch, weil etwas auf den Umhang getropft ist. 'War es die Nachtigall oder die Lerche', fragt er sich und sieht in den Baum hinauf. Weder noch, muss er feststellen, nur wieder eine von den lästigen Tauben, die alles beschmutzen. Während er den Fleck mit dem Taschentuch entfernt, hört er über sich ein gewaltiges Rauschen. Er springt auf und zeigt zum Himmel auf die keilförmige Vogelformation. „Sieh da, sieh da, Timotheus, die Kraniche des Ibykus.“ 
            „Ha noi“, erwidert der Spaziergänger mit dem Dackel, dem er vor die Füße gehopst ist, „i bin der Thomas, nit der Timothus, aber schö is scho, göll?“ Und beide starren der Vogelschar nach. Dann lupft Hieronymus den Hut vor dem Gefährten und setzt seinen Weg fort. 
            Der führt ihn über den Markt, wo er die beladenen Stände mit vielerlei Gemüse und leuchtendem Obst bewundert. Eine gelbe Birne dreht er sinnend in der Hand und fragt den vorübergehenden Jungen: „Junge, wiste ne Beer?“ Der guckt verblüfft, greift aber schnell zu und verschwindet. 
            Die üppige Marktfrau hinter den Stand ruft: „Muscht bezahle, gell?“ Hieronymus wendet sich ihr zu und erwidert: „Ich weiß nicht, was soll es bedeuten..“ Da brüllt sie lauter: „Nit stehle, bezahle!“ Verwirrt lässt Hieronymus sich zwei Birnen einpacken und murmelt im Weggehen: „Da werden Weiber zu Hyänen...“ 
            „Was habets gsagt, waaas?“ tönt es hinter ihm. Doch schnell verlässt er diesen Ort und begibt sich weiter fort.
            Gegenüber liegt die Kneipe, in der er seine Skatbrüder manchmal trifft. Und richtig sitzen dort bereits Fritz und Franz. Er nickt ihnen zu und sagt: „Ich sei, gewährt mir die Bitte, in eurem Bunde der Dritte.Franz deutet auf einen freien Stuhl und meint: „Nun red nit kariert, setz di. Solln mer schpiele?“ 
            Hieronymus nimmt umständlich Platz und blickt sich im Gastraum um: „Schweigen will ich von Lokalen, wo der Böse nächtlich prasst..“ ,murmelt er vor sich hin. „ Jau“, erwidert Fritz, „aber nu isch Tag und a Bier isch koa Prassn net.“ Inzwischen hat Franz die Karten gemischt und es geht los. Hieronymus bekommt ein gutes Blatt und zockt die Freunde gnadenlos ab. Sein Kommentar dazu nervt sie besonders: „Das ist freilich ärgerlich, diesmal aber nicht für mich.“ Nach einer halben Stunde geben sie auf,     Hieronymus hat zu viel Glück. Er bestellt zur Versöhnung einen Kräuterschnaps und sie stoßen an. „Es ist ein Spruch von altersher, wer Sorgen hat, hat auch Likör“,kann er sich nicht verkneifen, zu bemerken. Als er sich verabschiedet, fragt er die Freunde: „Wann treffen wir drei wieder zusamm?“  Sie zucken die Achseln, sagen „ Schaun mer mal.“ Hieronymus ist schon fast aus der Tür, da hört er Franz zu Fritz sagen: „Nit von dieser Welt, aber a Sauglück hats.“
            Es ist Mittagszeit undfreudig lenkt er seine Schrittezum Wirtshaus, denn nun hat er Appetit bekommen. Die Kellnerin bringt ihm sein Glas Roten und die Karte, fragt dabei, ob er wissen wolle, was es zu Mittag gebe. Hieronymus antwortet: „Zwar weiß ich viel, doch möcht ich alles wissen.“ 
            „Maultäschle un Schmelze“, antwortet die nette Bedienung und der Gast nickt begeistert. Er nimmt einen tiefen Zug aus seinem Glas und sagt zu sich selbst: „Hier bin ich Mensch, hier darf ich sein.“ Das Essen lässt noch auf sich warten, Hieronymus Magen beginnt zu knurren. Die Kellnerin erscheint und entschuldigt sich, es dauere noch ein bissel, denn die Schmelze brauche halt Zeit. 
            „Der Worte sind genug gewechselt, lasst uns nun endlich Taten sehn“, versetzt Hieronymus ein wenig ungehalten. „Mer tun alles für die Gäscht, s isch glei soweit“, verteidigt sich die Schöne und entschwindet in Richtung Küche. „Die Botschaft hör ich wohl, allein mir fehlt der Glaube“, murmelt Hieronymus hinter ihr her. Doch tatsächlich taucht sie wenig später mit einem besonders gut gefüllten Teller wieder auf. 
            Satt und beschwingt von seinen drei Gläsern Trollinger verlässt der betagte Literaturfreund sein Stammlokal und wendet sich nach Hause. Auf dem Gehweg grüßt er alle entgegenkommenden artig durch Ziehen des Hutes, dabei murmelnd: „Ihr naht euch wieder, schwankende Gestalten.“ 
            Beim Anblick der Sparkasse fällt ihm ein, dass er Geld braucht, denn der kluge Mann baut vor,und so betritt er den Schalterraum. Dort muss er warten, denn zwei Männer und eine Frau stehen vor ihm. Plötzlich ertönt hinter ihm Gebrüll und klirrendes Glas, zwei schwarz maskierte Männer stürmen in die Halle, fuchteln mit Pistolen umher und schreien: „Alles auf den Boden, aber schnell!“. Mit erhobenen Händen lassen sich alle vorsichtig auf dem Boden nieder, nur Hieronymus bleibt auf den Knien und blickt verwirrt auf die Maskierten. „Heinrich, mir graut vor dir“ stößt er hervor.
            „Verflixt, der hat mich erkannt“, schreit der kleinere der beiden Männer. Richtet die Pistole auf Hieronymus und schießt.
            Hieronymus spürt einen Schlag an der Brust und schaut an sich hinab. Sein weißes Hemd färbt sich langsam rot. „Blut ist ein ganz besondrer Saft“ murmelt er noch, dann fällt er vornüber und rührt sich nicht mehr. So starb Hieronymus Schmidt und konnte nichts dafür.
            

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Schweinereien
Regine Radermacher

            „Du sollst doch nicht mit dem Essen herumspielen. Immer dieses Gematsche! Mach bloß nicht wieder so eine Schweinerei!“ Die scheltenden Worte der Mutter erzeugen einen Rotschimmer auf den abstehenden Ohren ihres sechsjährigen Sohnes Felix, genannt Fips. Seine blauen Augen aber bleiben versonnen auf den Teller gerichtet, auf dem er gerade mit der Gabel einen tiefen Kanal durch den gelben Berg Kartoffelpüree grub. Langsam beginnt sich ein brauner Strom dicker Soße durch den Kanal auf den Spinatsee zu zu wälzen. 
            Spinat mag er nicht, zwar ist er nach Mutters Worten aus dem Garten und gesund, aber weil sie ihn durch den Wolf dreht, für ihn ein einziger fader Matsch. Das darf er aber nicht sagen, sonst fängt Vater wieder von den Hungerzeiten an und Mutter erzählt von den Negerkindern, die sich darum reißen würden. Mehr als einmal hatte er die Idee, den Spinat nach Afrika zu schicken, aber das hat er auch für sich behalten.
            Der Soßenstrom hat den Spinat erreicht und nun isst Fips langsam und methodisch.  Dabei denkt er an die Schreibübung, die er noch für die Schule erledigen muss, ehe er mit seiner Freundin Anneliese auf dem Hof spielen kann. Als er sich den letzten Bissen Frikadelle in den Mund schiebt, steht Mutter auf und beginnt mit dem Abräumen.
            Vater schaut aus dem Fenster auf den Parkplatz in der Kurve der Landstraße. Dort steht wieder der Lastwagen, der das Brot an die kleinen Gemischtwarenläden liefert. „Rheinbrot“ steht groß auf der Seite und ein angeschnittener Laib Brot ist aufgemalt. Vater murmelt in Mutters Richtung: „Hat der junge Kerl doch wieder sein Liebchen dabei und jetzt machen sie Schweinereien.“ Fips kriegt noch mit, dass Mutter Vater einen warnenden Blick zu wirft, dann geht er an die Schulaufgaben. 
            Später spielt er mit Anneliese 'Himmel und Hölle' und 'Vater, Mutter, Kind'. Er sagt zu ihr: „Heute stand wieder der Brotwagen auf dem Parkplatz und stell dir vor, da matschen der Fahrer und sein Liebchen im Brot rum. Hat mein Vater gesagt.“ Anneliese schüttelt den Kopf und äußert: „Die Erwachsenen sind total verrückt, findest du nicht?“ Fips ist ganz ihrer Meinung und dann spielen sie weiter. Als Anneliese von ihrer Mutter gerufen wird, wandert Fips im Garten umher. Die nette Nachbarin, Frau Fischer hängt gerade die Wäsche auf.
            „Du, Tante Fischer, kann ich dich mal was fragen?“, beginnt Fips. „Klar“, sagt die junge Frau und hängt ein Handtuch über die Leine. Sie mag den kleinen, blonden Burschen mit dem frechen Grinsen gern. „Du kennst doch den Laster von Rheinbrot, der immer mittags an der Kurve auf dem Parkplatz hält. Warum matschen d
er junge Mann und sein Liebchen da im Brot rum?“ Verständnislos starrt ihn die rotblonde Frau an. „Wieso das?“, fragt sie. „Mein Vater hat gesagt, die machen da Schweinereien. Und da matschen sie also rum.“ 
            Jetzt wird Frau Fischer puterrot im Gesicht und fängt aus voller Kehle zu lachen an. Sie krümmt sich zusammen und die Tränen laufen ihr über die Wangen, die sie mit einem feuchten Handtuch abwischt. Sprechen kann sie nicht. Fips steht noch immer mit fragenden Augen vor ihr. Aber er versteht langsam, dass er wohl auch von ihr keine Antwort bekommen wird. Als er langsam nach Hause schlurft, steht für ihn fest, dass an diesem Tag wirklich alle Erwachsenen total verrückt sein müssen.


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