Auszeit 1.4. Martina Sprenger

Ein Freundschaftsdienst

„Siehst du diese Schatten, Stefan? Hier, hier und hier?“
Bernhard tippte mit dem Zeigefinger auf das Röntgenbild. Ich starrte mit zusammengekniffenen Augen die Aufnahme meiner Lunge an, die auf einer Schiene an der Wand seines Behandlungszimmers befestigt war. Die Umrisse der beiden Lungenflügel verschwammen zu einem einzigen dunklen Fleck. 
„Das sind Lungenkarzinome.“ Bernhard nahm seine Lesebrille von der Nase und rieb sich die Augen. „Hochaggressiv. Inoperabel. Therapieresistent. Du hast nur noch wenige Monate zu leben. Drei, höchstens vier.“
Ich versuchte zu lächeln. Doch meine Mundwinkel waren festgefroren und ließen sich keinen Millimeter nach oben bewegen. 
„Das sind nur schlechte Nachrichten“, sagte ich schwach. „Hast du keine guten für mich?“
„Doch. Du wirst keine Schmerzen spüren. Dein Husten wird stärker und du wirst immer schlechter atmen können. Am Ende stirbst du an Herzversagen.“
„Wie beruhigend“, scherzte ich.
Bernhard trat zu mir und legte mir eine Hand behutsam auf meine rechte Schulter. Für einen so beherrschten Mann wie ihn war diese einfache Geste der Gipfel an Gefühlsäußerung. Ich schluckte schwer.
„Glaub mir, Stefan, es ist mir nicht leicht gefallen, dir die Wahrheit zu sagen. Doch schon zu Beginn meiner Karriere als Arzt habe ich mir geschworen, meine Patienten nicht zu belügen. Auch meinen besten Freund nicht.“
Ich nickte. „Ich weiß das zu schätzen. Aber nun will ich allein sein. Ich muss unser Gespräch erst einmal sacken lassen. Und darüber nachdenken, wie ich es Sabine und den Kindern beibringen soll.“
Bernhard nahm das Röntgenbild aus der Wandhalterung und schob es zu den anderen Unterlagen in meiner Akte. „Hast du dir schon überlegt, was du mit der Zeit anfangen willst, die dir noch bleibt?“
Ich lachte trocken auf. „Wohl kaum. Ich weiß es ja noch nicht einmal fünf Minuten“.
„Du hast natürlich recht. Entschuldige bitte. Aber darf ich dir einen Rat geben? Genieße die restliche Zeit deines Lebens. Du hast immer hart gearbeitet. Einser-Abitur. Jurastudium in Rekordzeit. Jüngster Teilhaber in der renommiertesten Anwaltskanzlei unserer Stadt. Keine Zeit für die schönen Dinge des Lebens. Gönn dir vor deinem Tod noch etwas.“
„Ich werde über deine Worte nachdenken“, sagte ich und erhob mich von meinem Stuhl. „Und danke, dass du ehrlich zu mir warst.“
In Bernhards Augen sah ich Tränen schimmern. Wir nickten uns kurz zu, dann verließ ich seine Praxis. An diesem Nachmittag spazierte ich noch lange am Rhein entlang, warf Steine ins Wasser und versuchte, die niederschmetternde Diagnose zu begreifen. Ich kam früh nach Hause und half Sabine, unsere beiden Söhne ins Bett zu bringen. Als die Kinder schliefen, holte ich eine Flasche Rotwein aus dem Keller, schenkte Sabine und mir ein und erzählte ihr von meinem Besuch in Bernhards Praxis. Lange sagte sie nichts. Dann sah sie mich mit blanken, harten Augen an.
„Bernhard hat recht“, sagte sie. „Du musst an dich denken. Genieß deine letzten Monate. Verreise. Sieh dir die Welt an. Mach was aus dem Rest deines Lebens.“
„Abgesehen davon, dass ich meine letzten Monate lieber mit dir und den Kindern verbringen möchte: Wovon soll ich mir das leisten?“
„Du besitzt genug Kreditkarten“, gab Sabine zur Antwort. „Dein Konto wird erst belastet, wenn du schon lange tot bist. Wir haben Gütertrennung. Auch ich würde in deinen letzten Monaten lieber mit dir zusammen sein. Aber du hast so viel gearbeitet, damit die Kinder und ich ein sorgenfreies Leben führen können. Ich käme mir egoistisch vor, wenn ich mich an dich binden würde.“
Wir diskutierten die ganze Nacht, bis ich endlich Sabines Argumenten nichts mehr entgegenzusetzen hatte. Ja, ich würde die Welt bereisen und die kurze Zeit genießen, die mir noch blieb. In den nächsten Tagen regelte ich meine persönlichen Angelegenheiten und ließ Sabine einen Stapel Papiere unterschreiben, damit sie und die Kinder nach meinem Tod abgesichert seien und keine finanziellen Sorgen haben würden.
Dann kaufte ich mir mit meiner American Express Karte einen schwarzen Lederkoffer von Porsche Design für elfhundert Euro und eine Auswahl an eleganter Freizeitkleidung von Armani. Ich verabschiedete mich von meiner Familie, fuhr zum Düsseldorfer Flughafen und kaufte mir ein Ticket für die einzige Maschine, in der an diesem Morgen noch ein Sitzplatz frei war. Sie brachte mich mit Lufthansa nach Havanna.
Ich stieg im Hotel Meliá Habana ab. Suite Royal. Fünfzehnhundert Euro pro Nacht. Ich charterte eine Motorjacht und ließ sie auf meine Hotelrechnung setzen. Visa zahlte. Ich fand schnell Anschluss. Jeden Mittag fuhr ich mit meinen neuen Freunden zum Schwimmen und Fischen aufs tiefblaue Meer hinaus. Jeden Abend rief ich meine Frau in Düsseldorf an und erzählte ihr, was in Havanna los war. Sie erzählte mir, was in Düsseldorf passierte. Ich versicherte ihr, wie sehr sie mir fehlte. Nach dem Telefonat ging ich nach unten in den Speisesaal, aß, trank und tanzte, bis der Morgen dämmerte.
Drei Wochen später flog ich nach Acapulco. Ich stieg im Hotel Encanto ab. Pool-Suite. Tausendsiebenhundert Euro die Nacht. Diners Club zahlte. Ich fand schnell Anschluss und fuhr jeden Mittag mit einer gecharterten Jacht und meinen neuen Freunden zum Fischen und Schwimmen aufs tiefblaue Meer hinaus. Jeden zweiten Abend rief ich meine Frau in Düsseldorf an und versicherte ihr, dass sie mir fehlte. Danach ging ich zum Essen und trank und tanzte bis in den Morgen hinein.
Nach vier Wochen setzte ich mich ins Flugzeug und ließ mich nach Lima bringen. Ich stieg im Marriot ab. Präsidentensuite. Zweitausendeinhundert Euro die Nacht. MasterCard zahlte. Ich fand schnell Anschluss und verbrachte jeden Tag mit meinen neuen Freunden beim Schwimmen und Fischen auf dem tiefblauen Meer. Nach dem Abendessen trank und tanzte ich die Nacht durch. Trotzdem fand ich Zeit, zwei Mal in der Woche meine Frau anzurufen. 
Am Ende der dritten Woche kehrte ich nach einem entspannenden Tag auf dem Meer in meine Suite zurück und fand meinen besten Freund im Sessel beim Fenster vor. 
„Bernhard!“, rief ich. „Was machst du denn hier?“
Er stammelte herum, verhedderte sich in seinen Worten und redete unverständliches Zeug. Nach und nach begriff ich, was er von mir wollte. Bei meinen Röntgenaufnahmen war etwas schiefgelaufen. Die Schatten, die er in den Bildern gesehen hatte, waren keine Lungenkarzinome. Sie waren bloß eine Fehlfunktion des Röntgengeräts. Nachdem sich der Nebel in meinem Gehirn gelichtet hatte, ging ich Bernhard an die Gurgel.
„Es ist alles deine Schuld, du Quacksalber!“, schrie ich mit Schaum vor dem Mund. „Weil du so ein mieser Arzt bist, habe ich hunderttausende Euro Schulden gemacht.“
Dann brach ich in Tränen aus.
„Da kriegen wir dich schon wieder raus, Stefan“, versprach er. „Ich stell dir ein Attest aus. Auf geistige Unzurechnungsfähigkeit.“
Ich musste mich zusammenreißen, um ihn nicht anzuspucken. „Schwachsinn! American Express, Visa MasterCard und Diners Club werden mich in kreditgroße Stücke reißen und mich an die Haie verfüttern.“
Bernhard biss sich die Unterlippe blutig und zerraufte sich seine dünnen Haare. Dann hellte seine düstere Miene sich auf. 
„Es gibt eine Lösung für dein Problem. Aber sie ist nicht ganz legal. Und sie ist an eine Bedingung geknüpft.“
„Ich tue alles, was du willst“, stieß ich hervor. „Was ist die Bedingung?“
„Dass du Sabine und die Kinder nicht wiedersehen wirst. Nie wieder.“
Was blieb mir übrig? Ich stimmte zu. Bernhard setzte mir seinen perfekten Plan auseinander.
„Du checkst heute noch hier aus und setzt dich in den nächsten freien Flieger. Egal wohin. Nur möglichst weit weg. Ich gehe ins örtliche Leichenschauhaus und erkundige mich nach nicht identifizierten männlichen Leichen. Eine werde ich als meinen Freund Stefan Bauer aus Düsseldorf erkennen. Die Leiche lasse ich nach Deutschland überführen. Der Sarg kommt in die Erde, ohne dass Sabine und die Kinder erfahren, dass ein unbekannter Toter in deinem Grab liegt.“
Der Plan war komplett hirnrissig. Aber Bernhard überzeugte mich schließlich davon, dass er alles arrangieren könnte. Ich packte meine Sachen, bezahlte meine Hotelrechnung mit MasterCard und nahm den nächsten Flieger nach Montevideo. Sofort nach meiner Ankunft kaufte ich mir eine Motorjacht, eine komplette Ausrüstung fürs Hochseeangeln und Lebensmittel für mehrere Monate. Die Kosten teilte ich gerecht zwischen American Express, Visa und Diners Club auf. Mein letztes Bargeld gab ich für einen neuen Pass aus. Dann schipperte ich an der Küste entlang nach Rio de Janeiro. 
Die ersten Rechnungen werden schon bald in Deutschland eintreffen. Sabine wird zwischen den Papieren im Safe meines Büros eine von ihr unterzeichnete Erklärung finden, dass sie für alle Schulden ihres Ehemannes aufkommt. Meine Lebensversicherung habe ich bereits vor einem Jahr gekündigt und das Geld auf ein Konto bei einem namhaften schweizerischen Bankhaus transferiert. Zeitgleich habe ich das Haus und mein Aktienpaket meiner langjährigen Sekretärin und Geliebten überschrieben.
Ich weiß schon lange, dass Sabine mich mit meinem besten Freund betrügt. Deshalb habe ich mich nach dem Gespräch mit Bernhard von einem weiteren Lungenfacharzt untersuchen lassen, der in meiner Lunge nichts Verdächtiges entdecken konnte. 
Sabine wird bis ans Ende ihres Lebens meinen Schuldenberg abtragen. So wie ich Bernhard kenne, hat er bald genug von ihr und ihren Klagen. Ich verdiene noch viele Jahre meinen Lebensunterhalt damit, deutsche Touristen zum Fischfang mit meiner Motorjacht aufs tiefblaue Meer hinaus zu fahren.
Und bei meiner gesunden Lebensweise mit viel frischer Luft und viel frischem Fisch werde ich sicherlich noch viele Jahre gesund und munter leben.



Bücher von Martina
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  • ISBN-13: 978-3957650054
  • Nervenkitzel Wuppertal: Kurz und Tödlich (Kurzkrimis)
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