3.5. Erika Grese


 Geheimnisvolle Kompositionen


Wir lernten uns während einer Jazzsession kennen und ich mochte gleich die Art, wie er mir aufmerksam zuhörte und mich dabei anschaute. Wir waren auf gleicher Wellenlänge. Nach zwei Monaten zogen Bert und ich zusammen.
Er hatte Musikwissenschaften studiert und arbeitete als freier Musik-Journalist zu Hause. Ich leitete ein gut gehendes Übersetzungsbüro in der Stadt, konnte aber 
viele Dinge am Rechner von zu Hause erledigen. 
Wir unternahmen viel, gingen zu Musikveranstaltungen, sahen uns gute Filme an und trafen uns regelmäßig mit Freunden mit denen wir meist bis in die Nacht zusammen saßen und über Gott und die Welt diskutierten.
Diese Feierabendvergnügen endeten abrupt an dem Tag, als Bert einen Auftrag zum Thema „Knastkultur“ erhielt. Für diesen Auftrag waren minuziöse Vorarbeiten, wie Besuche in der Vollzugsanstalt, Gespräche mit den Inhaftierten sowie zahlreiche Hintergrundrecherchen notwendig.

Schon bald arbeitete er oft bis in die Nacht am Computer. Auch tagsüber war er immer öfter lange unterwegs. Ich wusste, es war ein spannendes Thema, über das es sehr viel zu berichten gab. So verabredete ich mich häufiger mit alten Freundinnen, die ich in der letzten Zeit  vernachlässigt hatte und genoss es, mich wieder in alter Manier mit ihnen  auszutauschen.

Eines Tages, während ich mit einer Freundin in einem Bistro saß, sah ich zufällig aus dem Fenster und entdeckte Bert in Begleitung einer attraktiven Frau auf der anderen Straßenseite. Beide waren offensichtlich in ein intensives Gespräch versunken. Gehörte diese Begleitung auch zu seinen Recherchen? 
Ich ließ mir nichts anmerken und versuchte, mich weiterhin auf die Unterhaltung zu konzentrieren, was mir aber nicht so richtig gelang.

Wenig später klagte ich über starke Kopfschmerzen und verabschiedete mich hastig von meiner Freundin, die mir gute Besserung wünschte. Um mich abzulenken, setzte ich mich zu Hause gleich an den Computer und arbeitete an einer Übersetzung. Ich lag bereits im Bett als Bert spätabends nach Hause kam. Er sah, dass ich noch wach war und setzte sich auf meine Bettkante. Möglichst harmlos fragte ich, wie er seinen Tag verbracht habe, worauf er versicherte, dass er gut vorankomme. Einen kleinen Vorstoß wagte ich noch und erkundigte mich, ob er denn im Rahmen seiner Recherchen auf interessante Leute treffe.  Das verneinte er mit schiefem Grinsen und versetzte mir damit einen Stich. Kein Wort von
seinem Rendezvous. Wer war die  Geheimnisvolle? Gerade seine offene, ehrlich Art war es, die ich an Bert so liebte und nun verwirrte mich die momentane Situation. Als er später neben mir lag und seinen Arm um mich legte, versuchte ich, alle Gedanken beiseite zu schieben.

In den nächsten Tagen war ich mit einem umfangreichen, terminlich gebundenen  Auftrag beschäftigt. Während einer Kaffeepause blätterte ich in unserem Lokalblättchen. Dabei fiel mein Blick auf ein Bild mit der fettgedruckten Überschrift: 

„ Wer kennt diese Person “?

Mir lief eine Gänsehaut über den Rücken. Das war doch die attraktive Frau, die ich neben Bert gesehen hatte. Es bestand kein Zweifel. Das war sie! Ich fasste es nicht! Was sollte ich tun? War diese Frau in etwas Ungesetzliches verwickelt?
Und Bert? Woher kannte er nur diese Frau, die nun hier gesucht wurde? 
Bert und ich waren wahrscheinlich mit die letzten, die diese Frau gesehen hatten. Ich musste zur Polizei gehen! Aber in was würde ich Bert hineinziehen, wenn ich meine Aussage machte?

Als ich meine Übersetzungsarbeit wieder aufnahm, war ich nur halb bei der 
Sache. Immer wieder kam mir das Bild von Bert mit dieser nun Gesuchten in 
den Sinn. Wie sollte ich mich nur verhalten? Moralisch war ich gehalten, mein Wissen weiterzugeben.

Ich hatte schließlich die Idee, die Zeitungsseite so auf den Tisch zu legen, dass Bert sie sehen musste. 
Unruhig und mit gemischten Gefühlen harrte ich abends auf sein Erscheinen und versuchte mich so ungezwungen wie möglich zu geben. Innerlich angespannt wartete ich darauf, dass er den Artikel entdecken würde. Dann – endlich fiel sein Blick auf die aufgeschlagene Seite. Er stutzte kurz, griff sich die Zeitung und verschwand damit in sein Büro. 
Nach einer Weile kam er wieder heraus und informierte mich kurz - schon Richtung Haustür gehend -  dass er noch einmal weg müsse, da er etwas Wichtiges vergessen habe. Wenn er aufgeregt war, konnte er es gut vor mir verbergen.
Ich reagierte rasch und schlug ein späteres Treffen zum Abendschoppen in unserem Lieblingslokal vor,worauf er kurz nickte und versprach, von unterwegs anzurufen. 

Kaum hatte Bert die Wohnungstür hinter sich zugezogen, eilte ich in sein Arbeitszimmer, um nach dem Artikel zu schauen. Dort lag er nicht. Offensichtlich hatte er ihn eingesteckt. Wozu? Ging er jetzt zur Polizei? Wieso erzählte er mir nichts? Ich merkte, wie in mir langsam eine Mischung aus Ärger und Angst hochstieg. Was spielte Bert für ein Spiel? Ich kam mir so ausgeschlossen vor und merkte, wie langsam Wut in mir hochstieg. Ich nahm mir fest vor, Bert nach seiner Rückkehr direkt auf diese Frau anzusprechen. Auch fühlte ich mich verpflichtet, der Polizei eine Meldung zu machen, was aber erst nach einem Gespräch mit Bert möglich war, um ihn nicht zu belasten.

Als er spätabends immer noch nicht zurück war, wurde ich unruhig. Ein banges Gefühl beschlich mich. Normalerweise hätte er – wie versprochen - angerufen, um unsere Verabredung abzusagen. Was war da los? Ich stand auf, um in der Küche etwas zu trinken und wanderte mit dem Glas unruhig durch die Wohnung. Schließlich landete ich wieder in Berts Arbeitszimmer. Mein Blick fiel auf sein Handbuch, dass mit einem Stapel Papier halb verdeckt war. Ich blätterte zunächst nur wahllos darin herum, bis ich auf eine gelb markierte Zeile stieß und zu lesen begann: 

 Die Noten dienen als Geheimschriftstand da.

Neugierig geworden las ich weiter:

Ganze Notenpassagen werden mit sinnlosen Notenfolgen durchsetzt. Habe zunächst den Sinn dieser disharmonischen Sequenzen nicht verstanden, bis ich - einer Eingebung folgend - den Noten Buchstaben zuordnete und aus diesen versuchte, Wörter zu bilden , was aber zunächst für mich nur teilweise Sinn machte. Später fand ich heraus, dass es sich um einen Notencode handelt, bei dem jeder Note zwei Buchstaben zugeordnet werden. Etwa so:

::Users:erikagrese:Desktop:Notenschrift.tiff

Die angeblich Musikinteressierten heucheln für das Knastkunst-Projekt Interesse, um mittels ihrer musikalischen Geheimschrift mit der Außenwelt in Kontakt treten zu können.
Ausgerechnet ich soll wohlmöglich als Kurier dienen.
Als ich die „musikinteressierten“ Inhaftierten erstmals kennenlernte, hatte ich die eingefügten Notensequenzen zunächst amüsiert als Versuch einer misslungenen Improvisation betrachtet, wäre aber niemals auf die Idee gekommen, dass es sich hierbei  um eine kommunikative Plattform handelt.


Was hatte Bert denn da ausgeklügelt? Verwirrt schlug ich die nächste Seite auf und las weiter:

Beispiel: Die Noten F- E- F1-E1-E  und H-C-D-F-E1 bedeuten demnach:
HEUTE NACHT
Vielleicht benutzt man  auch noch dieTondauer für einen anderen kryptischen Code? Ich versuche, es noch herauszufinden, hatte er notiert.

Ich blätterte in den Tagebuchnotizen bis zu dem Tag, als ich Bert mit der Vermissten gesehen hatte. Mit klopfendem Herzen las ich:


Habe heute „L“ getroffen. Sie händigte mir das angekündigte Notenmaterial 
aus. Mein Verdacht bestätigte sich, nachdem ich es überflogen hatte. Sie ahnt nichts von meinem Wissen.
 „L“ erzählte mir, ihr Mann sei früher aktiver Saxophonist in einer Band
 gewesen Ein Bekannter von ihm habe sie angesprochen und nach seinen Kompositionen gefragt. Sie habe ihm gesagt, dass sie keine besäße und wolle 
sie nun mir anvertrauen, nachdem sie in der JVA von meinem Projekt erfahren 
habe. Sie bat mich, die Noten ihrem Mann bei meinem nächsten Besuch in 
der JVA zu geben. Ich bin mir nicht sicher, ob sie so ahnungslos ist wie sie tut!! 
Sie besucht ihren Mann ab und zu, obwohl sie die Scheidung eingereicht hat. Er sitzt wegen Drogenhandels ein.

Mir lief eine Gänsehaut über den Rücken. Ich eilte zum Fenster und schaute,
ob inzwischen Berts Wagen dort parkte. Nichts! Kurz entschlossen griff ich zum Telefon und wählte seine Handynummer. Es meldete sich nur die Mailbox. Wütend legte ich das Telefon zurück. Ich hatte immer gedacht, eine selbstständige Frau zu sein. Nun fühlte ich mich jämmerlich. Angst kroch in mir hoch. Machte ich etwas falsch, wenn ich zur Polizei ging? 

Andrerseits, überlegte ich, war Bert vielleicht in Gefahr und brauchte Hilfe. Was war mit der rätselhaften „L“ los? War sie eine Komplizin und spielte ein falsches Spiel mit Bert? Ich fand keinen klaren Gedanken und grübelte, wie ich es anstellen konnte, zur Polizei zu gehen - ohne Bert einzubeziehen.
Ich saß am Küchentisch und zermarterte mir den Kopf und dann fiel mir die rettende  Lösung ein. Ich wollte der Polizei berichten, dass ich die Unbekannte in Begleitung eines Mannes gesehen hätte. Ganz allgemein, ohne Bert zu erwähnen. Vielleicht erfuhr ich dann, warum sie gesucht wurde und ich hatte meine Pflicht getan. Ich schaute auf die Uhr. 22:00h! Konnte ich jetzt noch meine Aussage machen? Ich würde einfach vorgeben, ich hätte das Foto gerade erst in der Zeitung entdeckt und wolle nun meine Aussage so schnell wie möglich machen. Ich schnappte mir schnell meine Schlüssel und eilte hinunter zu meinem Wagen. Die Polizeistation lag nur ein paar Autominuten Richtung Stadtmitte, so dass ich bereits zehn Minuten später vor dem Polizeigebäude parkte.  

Mir war mulmig zumute, als ich die Stufen zum Eingang hinauf ging. Entschlossen drückte ich die Klingel neben der Tür und eine Stimme aus einem Lautsprecher fragte nach meinem Anliegen. 
„ Ich habe eine Aussage zu machen“, antwortete ich mit betont fester Stimme und der Türöffner wurde betätigt, so dass ich eintreten konnte.
 „ Was haben Sie denn auf dem Herzen, junge Frau“, begrüßte mich ein Polizist mittleren Alters. 
„Es geht um die Vermisstenanzeige im heutigen Lokalanzeiger!“ Meine Stimme hörte sich fremd an und mir fiel ein, dass ich das betreffende Blatt ja gar nicht hatte. Zum Glück wusste mein Gegenüber gleich Bescheid, griff hinter sich und zog die Zeitungsseite mit dem entsprechenden Bild aus einem Stapel Papier hervor. 
„ Meinen Sie dieses Bild“? „ Ja“, brachte ich hervor. 
„ Kennen Sie die Frau?“ Er schaute mich fragend, mit leicht gerunzelter Stirn an. 
„ Kennen nicht, aber ich bin sicher, dass ich sie vor einigen Tagen gesehen habe.“

Ich erzählte ihm wo und nannte ihm den Tag. Der Polizist, der sich mit Oberwacht-meister Herbert vorgestellt hatte, notierte meine Ausführungen und bat dann um meinen Personalausweis für das Protokoll. Für einen kurzen Moment war ich bereit, ihm mein ganzes Wissen anzuvertrauen, als ich durch das Klingeln meines Handys in meiner Tasche von diesem Gedanken abgelenkt wurde. Ich entschuldigte mich und drückte – etwas abseits im Raum – die Taste.

„ Bist du es?“, hörte ich Berts atemlose Stimme. „ Ich mache mir Sorgen. Wo bist du?“

„Ich bin gleich zu Hause“, beendete ich das Gespräch und bemühte mich, Herrn Herbert unbefangen anzuschauen. „Das war mein Freund, der sich Sorgen macht, weil er mich zu Hause nicht angetroffen hat.“ 
Inzwischen hatte der Beamte meine Aussage protokolliert und schob mir das Blatt zur Unterschrift über den Schreibtisch.

Rasch überflog ich die Zeilen, bevor ich unterschrieb und gab ihm das Protokoll mit den Worten zurück: „Ich hoffe, ich konnte Ihnen helfen.“ Er nickte nur und ich hakte neugierig nach: „Weshalb wird denn die junge Frau eigentlich vermisst?“ „Leider Top Secret“, antwortete Herr Herbert und reichte mir meinen Ausweis zurück.            „ Sollte es nötig sein, melden wir uns bei Ihnen. Vielen Dank für Ihre Kooperationsbereitschaft.“
Ich hob die Hand zum Abschied und eilte hinaus zum Auto. 
Bert war zu Hause. Das war das Wichtigste. 

Er war aber nicht allein! Ein Unbekannter saß auf unserem Sofa. 
„Walder, Kriminaloberkommisar “, stellte sich der Fremde vor. 
„Dank Ihres Mannes sind wir auf eine heiße Spur gekommen.“ 
Ich schluckte, da ich mir durch das heimliche Stöbern in Berts Notizen Einiges zusammenreimen konnte, ließ mir aber nichts anmerken.

„Die Entdeckungen Ihres Mannes sind so brillant, dass wir durch ihn auf eine kriminelle Machenschaft gestoßen sind. Ich möchte Sie bitten, absolutes Stillschweigen zu bewahren und sich so zu verhalten wie immer. Nach 
Abschluss der Ermittlungen werden wir Sie benachrichtigen.“ 
Herr Walder stand auf und verabschiedete sich mit einem anerkennenden Blick auf Bert.

„ Wo warst Du denn noch so spät?“ eröffnete Bert das Gespräch, nachdem der Kommissar  gegangen war. 
„ Bei der Polizei“, entgegnete ich spitz. 
Bert sah mich erstaunt an. „Wieso? Hast du mich als vermisst gemeldet?“
Es sollte ein Scherz sein.

Obwohl ich mich schämte, ihm nun von meinem heimlichen Lesen in seinen Notizen erzählen zu müssen, hielt ich mich nun nicht mehr zurück.  Alles sprudelte aus mir heraus, was ich bisher für mich behalten hatte. Danach war 
ich so erleichtert, dass ich einen lauten, befreienden Seufzer ausstieß. 
Wenn er ärgerlich reagiert hätte – ich hätte es verstanden. Aber er sagte nur:            „ Solche Sorgen hast du dir um mich gemacht?“ 
Ich atmete erleichtert auf. Bert hatte verstanden, dass ich nur aus Sorge gehandelt hatte. Natürlich erzählte ich ihm auch, dass ich ihn mit dieser ominösen Frau gesehen und welchen Reim ich mir aus meinem Halbwissen gemacht hatte. 
Er drückte mich liebevoll und dann erfuhr ich von ihm den Rest der Geschichte:
Frau „L“ war nicht so unwissend, wie sie vorgegeben hatte. Das hatte Bert schon bald herausgefunden und sich der Kripo anvertraut. Dort erfuhr er, dass 
sie seit langem beschattet wurde, ihr aber nichts nachgewiesen werden konnte. Dass sie Informationen mittels Notenblätter in und aus dem  Gefängnis schmuggelte, war natürlich niemandem in den Sinn gekommen. 

Wohl ahnend, dass man ihr auf der Spur war, tauchte sie dann wohl unter und wurde deshalb auf die Fahndungsliste gesetzt. 
Ich war stolz auf Bert, der dies alles ins Rollen gebracht hatte. 

Einige Wochen später erfuhren wir, dass der Kopf der Drogenbande – der Mann von Frau „L“ – mitsamt einer Bande von Mittätern überführt worden war. Man hatte nicht nur einen Ausbruch geplant, sondern auch im großen Stil Drogendeals organisiert und mittels Komplizen ausgeführt. 

Was wir aber dann hörten, schockierte uns am meisten. 
Frau „L“ war nämlich nicht – wie vermutet  - untergetaucht, sondern wurde ermordet in einem Hotelzimmer aufgefunden. Wusste sie zuviel und war eine Gefahr für die Bande geworden? Glaubte man, sie hätte etwas verraten? 
Das würde bedeuten, wir waren ebenfalls in Gefahr...






























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