22.4. Sibyl Quinke

Stille


Stille, richtige Stille, gibt es die überhaupt noch? In meiner Wohnung, selbst wenn kein Radio oder Fernsehapparat läuft, rauscht die Spülmaschine, die Dusche oder es brummt der Kühlschrank; kein Lärm, aber Untergrundgeräusche, die wir gar nicht mehr bewußt wahrnehmen. Vielleicht an einem Sonntagmorgen auf der Terrasse mag es so still sein, daß ich meinen eignen Atem höre und doch bleibt, ganz weit weg, ein Rauschen. Am selben Nachmittag im Garten gibt es immer noch Schönes zu hören, z. B. Vogelgezwitscher oder den Wind wie er durch die Blätter streicht. Aber auch Nachbarn, die den Tag ebenfalls draußen genießen möchten. Die Witwe, die auf dem Balkon sitzend telefoniert und die gesamte Umgebung informiert, was sie umtreibt oder was sie vom Verhalten einiger ihrer Zeitgenossen hält. Da gibt es Geschirrgeklapper, Stimmen, Kinderlachen, eine Schaukel, die quietscht … und dann fliegt ein Flugzeug in großer Höhe über uns hinweg – und weckt Sehnsüchte. 

Wohin tragen uns die Träume? Vielleicht dorthin, wo es wirklich still ist, wo die Zivilisationsbeschallung noch nicht hingefunden hat? Gibt es einen solchen Ort geben?
Vielleicht die Mongolei? Ja, aber der Weg ist weit, und es gilt die Ohren zu spitzen. Wo ist die Stille körperlich spürbar? Eine Stille, wo man glaubt, die Sonnenstrahlen zu hören und dann gelangt so etwas wie: „krp, krp, krp …“ an die Ohren. - Es sind die Pferde, die sich leise genähert haben und das Gras abfressen … sonst kein Laut in dieser unendlichen Weite, die alle einlädt, die es bis hierher geschafft haben. Du bist nicht Gast, du wirst integriert. Du wirst vereinnahmt und wirst Teil, dieses unendlichen Grüns. Zaghaft, durchzogen von Bach– und Flussläufen, die sich hin- und wieder neue Wege suchen, gesäumt von Yaks, die ihre Jungen säugen. Dazwischen taucht am Horizont ein Reiter auf, klein, schmächtig mit einem dunkelblauen Deel gekleidet und in der Taille mit einem orangefarbenen Gürtel zusammen gehalten. Mit einer Leichtigkeit bewegen sich diese Geschöpfe Gottes über die Ebene, die Herde im Blick. Scheinbar wie von selbst bewegt sich das Pferd und umrundet die Tiere, die den Menschen zu ignorieren scheinen und weiter Gras fressen. Der Moment, wo die Stille durch weichen Hufschlag auf die Erde unterbrochen wird. Ein Laut, der Leben vergegenwärtigt, um gleich wieder zu verschwinden. Die Stille ist wieder da – und dröhnt im Schädel. Kein Stürmen, kein Zischen, kein Säuseln, nichts, einfach nichts. Es hat sich aufgelöst, es existiert nicht mehr. Und selbst das zarte Rascheln von Blättern, durch die der Wind streicht, gibt es nicht. 
Die Ebene ist flach, die Vegetation bestenfalls zehn cm hoch, besteht aus Gras und Kräutern. Kein Strauch, kein Baum, der sich dem Wind hingibt und sacht schwingt. Nur die Feuchtigkeit, die Böen tragen sie hinweg, trocknen die Haut und Lippen aus. Die Sonne, auch wenn sie durch die Wolken nur gedämpft hindurch kommt, färbt das Gesicht braun und der Wind die Wangen rot. Es knistert laut, und doch ist es so still, dass ich Momente wahrnehme, von deren Existenz ich nichts wusste.